Obwohl der letzte Gastpost nicht lange her ist, gibt es (zu meiner großen Freude) bereits heute den nächsten Teil. Dieser Teil ist sehr persönlich und auch wieder ziemlich ausführlich - d.h. es gibt wieder eine Menge an Erfahrungen einer betroffenen Person, die ihr hier lesen werdet. Ich hoffe, ihr lest diese Geschichte mit genauso viel Freude und Neugier wie die bisherigen Geschichten und ich hoffe auch, dass es mal wieder eine inspirierende Hilfe für euch sein wird! Für mich bleibt, was das angeht, nur noch Folgendes zu sagen: Ein großes Dankeschön an die Person hinter der Geschichte, die dafür sorgt, dass es eine weitere Fortsetzung dieser Postserie geben kann!
Wie immer weise ich euch auf das Label "EureGeschichten" hin, worunter ihr sämtliche Teile dieser Postserie finden könnt. Im ersten Teil gibt es zusätzlich eine Erklärung dazu, wie dieses Projekt entstanden ist und was es damit genau auf sich hat. Bevor ich das Wort aber endlich abgebe, schiebe ich noch kurz meinen Aufruf an euch ein:
Nun möchte ich euch als Betroffene ganz direkt ansprechen: Ihr habt niemanden zum Reden, möchtet aber trotzdem mal euer Herz ausschütten oder Frust rauslassen? Ihr traut euch nicht, selbst an die Öffentlichkeit zu gehen, möchtet aber dennoch, dass eure Geschichte von Menschen gelesen wird? Ihr habt ein paar tolle Tricks und Tipps oder einfach nur liebe Worte für Leidensgenossen, die ihr loswerden wollt? Ein eigener Blog wäre euch zu viel Arbeit, aber einen kleinen Post würdet ihr gerne verfassen? Dann meldet euch gerne bei mir! Schreibt mir eine E-Mail mit dem Betreff "Gastpost" an folgende Adresse: dermatillomanie-blog@web.de. Selbstverständlich dürft ihr auch Bilder mitsenden, wenn ihr das wollt. Ihr könnt dabei entweder von Anfang an namenslos bleiben oder mich darum bitten, euch zu anonymisieren. Ich werde euren Text dann unverändert innerhalb dieser Postserie veröffentlichen, sodass ihr selbst eventuelle Kommentare Anderer dazu lesen könnt.
"Hallo liebe Menschen da draußen,
ich freue mich sehr, hier und heute die
Möglichkeit zu haben, meine Erfahrungen, Ängste und Gedanken mit
Skin Picking zu teilen. Ich hoffe, ihr habt etwas Zeit, denn ich habe
so viele Gedanken, die ich gerne mit euch teilen möchte, denn so
können wir lernen, dass wir nicht alleine sind! Ich bin zwanzig
Jahre alt und leide nun seit etwa vier Jahren an der Krankheit. Ich
könnte meine Lebensgeschichte erzählen und könnte euch, oder vor
allen Dingen wahrscheinlich mich selbst, davon überzeugen, wie das
Ganze zustande gekommen ist und wer Schuld an meiner Lage hat. Aber
das führt nirgendwo hin und die Sache mit der Schuld ist vielleicht
eines der ersten Dinge, die man aus seinen Gedanken streichen muss,
um mit sich selbst Frieden zu schließen.
Und da sind sie auch schon: Die
Gedanken. Sind sie nicht von uns allen der wohl hartnäckigste
Wegbegleiter, der sich, ohne sich wirklich einmal vorgestellt zu
haben, mit Pantoffeln und Hausschlüsseln bei uns in der Denkstube
eingenistet hat und unser Leben nun zu einer einzigen Impulskontrolle
und Wahnsache macht?
Skin Picking oder Dermatillomania ist
eine ernstzunehmende psychische Erkrankung. Sie gehört zu den OCD
(obsessive compulsive disorder) und spielt unserem Gehirn eine Welt
vor, in der die Haut der Feind ist und die Finger unsere Waffen. Für
mich ist Skin Picking eine einzige Einschränkung meines Lebens.
Neben Skin Picking leide ich auch noch an vielen weiteren
Zwangsstörungen, aber Skin Picking ist die, die mein Leben am
meisten zu einer harten Belastungsprobe macht, denn sie ist
irgendwann nicht mehr nur Kopfsache, sondern wird auch zu einem
körperlichen Desaster.
Inwiefern ist Dermatillomania eine
Einschränkung für mich? Das fängt schon bei den kleinsten Sachen
an. Ich habe beispielsweise eine tierische Angst davor, in neue Räume
oder Gebäude zu gehen, die ich noch nicht kenne. Das können zum
Beispiel Einkaufsläden, Hotels oder auch die Wohnungen oder Häuser
von Freunden sein. Der Grund, warum ich so eine Angst habe, ist, dass
ich ja nicht weiß, wie einerseits der Raum beleuchtet ist und
andererseits, ob es nicht womöglich reflektierende Flächen gibt.
Ja, diese reflektierenden Flächen sind wohl unser größtes
K.O.-Kriterium.
Spiegel haben mittlerweile eine
panikerzeugende Wirkung auf mich. Ich muss meine Augen schließen,
wenn ich an ihnen vorbeigehe. Ich meide es, Sachen aus Räumen zu
holen, in denen Spiegel sind. Manchmal, wenn es sich nicht vermeiden
lässt (das Bad muss ja irgendwann auch einmal sauber gemacht werden
:)) tue ich dies entweder zu einer ganz dunklen Abendstunde oder ich
wickle mir einen Schal um meinen Kopf, damit ich bloß mein Gesicht
nicht wahrnehmen muss.
Immer wieder wird mir gesagt, dass ich
wunderschön bin.
Ich sehe das nicht. Ich suche und suche
und sehe nur meine Zwänge. Ich sehe aufgekratzte, blutende Haut, ich
sehe die Wut darüber, aber auch die Erleichterung.
Im Alltag muss ich Latexhandschuhe
tragen. Ohne sie könnte ich mich nicht eine Sekunde lang
beherrschen. Sie helfen etwas, aber wenn der Wunsch nach dem Kratzen,
Knibbeln und Quetschen allzu groß ist, sind auch sie keine
ausreichende Barriere mehr. Jede noch so kleine Kleinigkeit kann ein
Auslöser für eine neue Attacke sein. Manchmal ist es nur der
Ellbogen, der aus Versehen den Türrahmen gestreift hat und dieser
eine seltsame, zerstörerische Teil mir dann suggeriert, dass ich
dieses unvorhergesehene Ereignis nur durch Bearbeiten meiner Haut
verarbeiten kann.
Die ganze Welt wird nur noch durch die
Brille der Stressregulation über die Haut gesehen. Ich kann keine
Ereignisse einfach in ihrer Fülle genießen, mein Kopf hinterfragt
sie immer wieder auf ihre Bedeutsamkeit für mich und meine
heruntergekauten Fingernägel.
Manchmal weiß ich nicht, wie Mutmachen
aussehen soll. Bevor man die Welt liebt, muss man sich selbst lieben,
aber wie soll das gehen? Immer wenn ich auf dem Weg dorthin bin,
macht mir das Leben mit seinen kleinen alltäglichen Widrigkeiten
einen Strich durch die Rechnung. Ich bin oft kurz davor, aufzugeben,
aber wie Robert Frost es einmal so schön formuliert hat: „In drei
Worten kann ich zusammenfassen, was ich über das Leben gelernt habe:
Es geht weiter.“
Und diese Message möchte auch ich euch
mitgeben. Egal, wie sehr sich die Krankheit euch in den Weg stellt,
ihr seid größer als sie! Nur dank euch kann sie überhaupt
existieren! Das Leben sucht sich manchmal die besten Menschen für
die unanständigsten Aufgaben heraus und das nehme ich als positives
Feedback an, dass mir das Leben so eine einzigartige, wenn auch
absurde Herausforderung zutraut!
Und ich bitte auch euch: Denkt daran,
dass ihr nicht alleine seid! Auch wenn ihr das Gefühl habt, dass
euch keiner versteht, nehmt es diesen Menschen nicht übel. Wir
zeichnen uns durch Empathie aus, aber am Ende können wir auch nur
das spüren, was wir selbst schon einmal empfunden haben. Was es
bedeutet, stundenlang vor dem Spiegel zu stehen, Angst vor
Körperkontakt zu haben oder auch in vielseitigen Aspekten des
Alltags eingeschränkt zu sein, ist für manche Menschen eine ferne
und unwirkliche andere Welt.
Zu Beginn des Jahres habe ich mir im
Zuge der psychischen Selbstreinigung das Semikolon-Tattoo stechen
lassen. Es ist eines der wohl bekanntesten Symbole, die sich im
Rahmen des Kampfes gegen psychische Krankheiten etabliert haben und
geht wortwörtlich unter die Haut: Es ist ein Symbol für „das
Leben über selbstzerstörerische Gedanken“. In seinem Ursprung
bedeutet es, dass im literarischen Sinne ein Autor dann ein Semikolon
setzt, wenn er erst den Satz beenden wollte, sich dann aber doch
dafür entscheidet, ihn fortzuführen. Du bist der Autor und
der Satz ist dein Leben!
Ich habe einmal in dem wunderbaren Buch
„Ziemlich gute Gründe, am Leben zu bleiben“ von Matt Haig, in
dem sich der Autor mit seiner Krankheitsgeschichte auf bewegende und
aufmunternde Art auseinandersetzt, gelesen, dass wir der Himmel sind
und die Depression (gleichzusetzen mit jeder mentalen Erkrankung)
eine Wolke. Wir können ohne die Krankheit leben, aber die Krankheit
kann ohne uns nicht eigenständig existieren. Wir können uns von ihr
unabhängig machen, wir brauchen sie nicht, aber genau diesen
Gedanken in unserem alltäglichen Gedankenchaos zu einem wichtigen
Gedanken zu machen, ist das Problem.
Aber diese Metapher gefällt mir sehr.
Sie zeigt, wie unendlich und beständig wir sein können und wie
abhängig von inneren und äußeren Begebenheiten und wie
unselbstständig unsere inneren Dämonen eigentlich sind.
Zum Schluss empfehle ich euch neben
Matt Haig auch die Lektüre von „Schlaft gut, ihr fiesen Gedanken“
von dem hervorragenden John Green. Die Geschichte ist eher ein
Jugendroman, aber die Protagonistin leidet auch an Zwangsstörungen.
Eine besonders intensive Störung ist ihr ständiges Verlangen, sich
erneut die verheilende Haut an ihrem Finger wegzukratzen und diese
anschließend zu reinigen und zu verarzten. Die ganze Zeit über wird
die Handlung aus der Sicht eines Mädchens erzählt, das mit seinen
inneren Dämonen kämpft und somit die Welt und ihre Ereignisse auch
deutlich anders wahrnimmt. Ich konnte mich sehr gut mir ihr
identifizieren und dieser Roman hat mir den Mut gegeben, dass wir
gerade auf dem besten Weg sind, ein großes Defizit in unserer
Gesellschaft aufzubrechen und zu bearbeiten, nämlich das
Totschweigen von geistiger Andersartigkeit in ihrem besten Sinne!
Auch wenn noch so viele weitere
unausgeführte Gedanken in mir schlummern, verbleibe ich nun erst
einmal mit den besten Grüßen! Bleibt stark!
Anonym"
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