10. Oktober 2022

Was bedeutet Recovery?

Hi ihr! :)
 
Ihr habt sicher mitbekommen, dass ich zuletzt das neue Buch "Frieden mit meiner Haut" gelesen habe - ein Buch über die Heilungsgeschichten verschiedener Betroffener (hier kommt ihr zu meiner Rezension darüber). Gerade eben während des Selbsthilfegruppentreffens kamen wir auch kurz auf das Thema Heilung: Was bedeutet es für uns, vom Skin Picking "geheilt" zu sein? Ab wann ist es "vorbei"? Was ist eigentlich das "Ziel", auf das wir hinarbeiten? Und während dieses Austauschs ist mir etwas klar geworden... nämlich, dass ich das alles noch gar nicht so genau weiß. Ich dachte immer, ich wüsste einigermaßen, was meine persönliche Definition von Heilung ist und wohin mein Weg geht. Aber eigentlich weiß ich das nicht.

Jetzt denkt ihr euch vielleicht "trifft sich ja gut, wenn du einen Beitrag darüber schreibst". Ja, allerdings. :D Aber es geht für mich gar nicht immer darum, DIE Antwort(en) zu finden, sondern um eine Auseinandersetzung. Und die möchte ich genau jetzt, im Nachgang an die SHG, angehen. Ich habe vor Längerem bereits für Christinas Webseite einen kleinen Beitrag über Recovery geschrieben (dafür diesem Link folgen und fast nach ganz unten scrollen) und die Zeilen daraus sind zwar nicht total verkehrt, aber ich möchte sie updaten. Möchte schauen, wie ich mit den Gedanken von eben auf diesen Beitrag schaue. Es ist eh längst überfällig, dass ich mich der Thematik widme (in diesem Post über Akzeptanz vom April habe ich es zum Beispiel angeteastert) und heute fühlt es sich genau richtig an, über meine persönliche Bedeutung von Recovery nachzudenken. Nachdem ich bspw. auch schon die Frage danach bearbeitet habe, wofür es sich lohnt, am Skin Picking zu arbeiten (der Blogpost dazu)...

Wieder zurück zum ersten Absatz: Ich beschäftige mich bald seit 10 Jahren mit dem Skin Picking, d.h. ich habe schon so einige Informationen gesammelt, Wissen angehäuft und meine eigene Dermatillomanie sehr gut kennengelernt. Über all diese Jahre habe ich verdammt viel gelernt, reflektiert und geleistet - einen Teil davon kann man anhand der Blogbeiträge nachvollziehen. Gerade neulich habe ich mich nochmal intensivst mit dem Thema Heilung auseinandergesetzt, indem ich ein ganzes Buch darüber gelesen habe. Man sollte meinen, dass ich wüsste, was ich will und wohin ich will. ICH meinte zumindest das zu wissen und wie mir eben deutlich wurde, weiß ich es nicht so richtig... Was bedeutet es für mich, frei/geheilt vom Skin Picking zu sein? Wie soll dieser Zustand aussehen? Was genau ist das Ziel, auf welches ich mich langfristig zubewegen möchte? Keine Ahnung. Ich habe heute erkannt, dass auch diese Fragen sinnbildlich für ein Puzzle stehen. Diese Metapher habe ich ab und zu schonmal verwendet, zum Beispiel im Kontext davon, welche Anteile es braucht, um einen guten Werkzeugkoffer an Strategien gegen das Skin Picking zu haben. Auch die Komponenten, die heilungsförderlich sind (die also eher die Frage "Wie komme ich zur Heilung?" beantworten), sind zahlreich und bilden gemeinsam ein Puzzle zur Heilung. Ich hoffe, die Abgrenzungen und Unterschiede sind klar. Denn es geht mir darum, dass sich für mich ein neues Puzzle aufgetan hat, welches es zu puzzlen gilt: Was ist MEINE Recovery? Wohin wird mich mein Weg führen?. Heilung ist sooooo ein großes Thema, es besteht für mich aus mehreren (teilweise auch zusammenhängenden) Puzzlebildern. Aktuell habe ich weniger Puzzleteile zur Verfügung als gedacht. Aber ich bin nicht komplett ahnungslos, ich habe schon so einige Aspekte ausgemacht, die ich als relevant ansehe... Schauen wir mal auf das, was ich für Christinas Seite zum Thema Recovery geschrieben habe:

Ich habe davon gesprochen, dass ich einen Zustand erreichen will, in welchem ich die Dermatillomanie im Griff habe und nicht sie mich. Das ist für mich der Wunsch, mich nicht mehr ausgeliefert und hilflos zu fühlen, sondern eine gewisse Kontrolle zu haben. Ja, dem kann ich auch aus jetziger Sicht noch zustimmen. Kontrollverlust ist ein ganz schwieriges Gefühl für mich... Ich habe Dinge gerne unter Kontrolle, ich mag vorhersehbare Dinge/Situationen/etc.. Es ist schwierig, das zu beschreiben, weil das eigentlich noch so viel mehr ist als das und weil ich daran wahrscheinlich auch arbeiten muss. Also an der Frage, woher das kommt und ob ich mich nicht auch darin üben sollte, Unvorhersehbares aushalten zu können. Kontrollverlust heißt nicht gleich Chaos, oder? Es gibt auch etwas zwischen diesen beiden Extremen und dieses "Dazwischen" sollte ich vermutlich besser kennenlernen. Dann wird es für mich gleich viel weniger katastrophal sein, wenn ich mal nicht die volle Kontrolle habe. Resilienz und guter Umgang mit psychischen Erkrankungen zeigen sich nämlich auch gerade in herausfordernden Zeiten!
 
Welchem Aspekt ich aus heutiger Sicht zu 100% zustimmen kann: Ich habe nicht den Anspruch, die Krankheit 100%ig loszuwerden als wäre sie nie da gewesen. Ich glaube auch gar nicht, dass das geht. Skin Picking begleitet mich seit 13 Jahren und hat mich geformt, das lässt sich nicht abstreiten. Ich erkenne an, dass Skin Picking einer der Einflüsse gewesen ist, die mich zu dem Menschen gemacht haben, der ich bin. Es gehört irgendwie zu mir und das wird es wahrscheinlich immer tun. Ich werde es nie komplett ausradieren können in dem Sinne, dass ich mir vornehmen kann, nie wieder auch nur eine einzige Stelle auszudrücken oder aufzukratzen. Aber das ist okay! Ich werde wahrscheinlich immer irgendwie einen Hang dazu haben, aber ich glaube dennoch an Heilung und an Freiheit. An etwas hinter dem Leid. An einen Zustand, wo ich wirklich auf alle Bereiche meines Lebens bezogen behaupten kann, dass ich gut damit leben kann. Gut damit leben heißt möglichst wenig bis gar kein Einfluss auf meine Psyche, auf mein Sozialleben, auf meine Haut und Ähnliches. Skin Picking in einem "normalen" Ausmaß - eben so viel, wie es auch andere (unbetroffene) Menschen im Rahmen eines menschlichen Hygieneverhaltens tun.

Das sind für mich die Grundbausteine meines Verständnisses von Recovery. Doch es ist längst nicht alles, denn es gehört noch sehr viel mehr dazu, was ich erreichen möchte:
- Gesundes, wertschätzendes Verhältnis zu mir selbst, zu meiner Haut und zu meinen Emotionen
- Skin Picking ist kein Weg mehr, Emotionen zu "verarbeiten", weil ich meine Emotionen besser verstehen kann und bessere Wege gefunden habe, mit ihnen umzugehen
- Gute Umgangsmethoden für Stress und Herausforderungen
- Mich selbst besser kennen und die Fähigkeit ausbauen, gut zu mir sein zu können
- Zahlreiche und passende Wege, mir selbst etwas Gutes zu tun
- Bewusster und aufmerksamer Momente erleben können
- Mich in Dankbarkeit und Vergebung mir selbst gegenüber üben
- Allgemein fürsorglicher und liebevoller Umgang mit mir selbst
- Eigene Grenzen kennen und wahren
- Psychische Hintergründe, Traumata etc. (des Skin Pickings und allgemein) innerhalb von Therapien kennenlernen, verstehen lernen und möglichst gut aufarbeiten
- ...

Das wird nicht vollständig sein, aber ich habe in dieser Auseinandersetzung bereits einige der wichtigsten Punkte gesammelt. Gerade das Thema der psychischen Hintergründe ist für mich ein bisher noch unangetastetes Feld, hinter welchem ich vieeeele Learnings und gleichzeitig sehr viel Arbeit erwarte. Ich glaube, dass hier der Hund begraben liegt (mehr dazu im letzten großen Absatz der Rezension zu "Frieden mit meiner Haut").

Alles in allem weiß ich, dass Heilung und Recovery auch für mich ein vermutlich lebenslanger Weg bzw. ein Prozess ist. Wie ihr seht, bin ich noch dabei, herauszufinden, wie genau der Weg aussieht und was das Ziel sein wird, wenn es denn überhaupt eins gibt. Hauptsache, ich bleibe in Bewegung und mache in Summe mehr Fort- als Rückschritte. Und wer weiß? Vielleicht werde ich es erst dann genau wissen, wenn ich da bin. Spätestens dann werde ich es merken, glaube ich. Aktuell weiß ich, dass ich noch nicht dort bin, wo ich sein möchte. Das ist doch schonmal eine sehr wichtige Erkenntnis! Vor mir liegen noch zahlreiche Erkenntnisse, Learnings, Impulse und schließlich Schritte, die mich meiner Freiheit näherbringen. Bis dahin bin ich auch ein vollwertiger und liebenswerter Mensch, das darf ich auf meiner Reise nie vergessen.

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