- Skin Picking kann sich wie ein sich ständig wiederholender Kontrollverlust anfühlen - wie etwas, was die vollkommene Macht über uns besitzt. Oft haben wir Betroffene das Gefühl, den Einschränkungen komplett ausgeliefert zu sein. Aber wenn wir aktiv erste Schritte in Angriff nehmen, dann können wir merken, dass wir gar nicht so machtlos sind wie wir oft glauben. Wir können Dinge in die Hand nehmen und uns dadurch ein Gefühl von Selbstermächtigung schenken.
- Weil Skin Picking so schambehaftet ist, ist es eine Erkrankung, die viele Betroffene einzig mit sich selbst ausmachen. Das ganze Leid, die kreisenden Gedanken, die vielen unterschiedlichen und teilweise sehr starken Gefühle - ganz schön viel für eine Person allein. Was für eine Bedeutung und Kraft es hat, sich zu öffnen (egal, ob in Therapie, in einer Selbsthilfegruppe oder gegenüber seinen Lieben), ist mir bei der Lektüre erneut bewusst geworden. Dadurch können wir nicht bloß endlich mal loslassen, sondern auch besser strukturieren, was uns sonst als wirres Wollknäuel im Gehirn rumspringt.
- Dermatillomanie zeigt sich nicht bloß auf der Haut, es kann das ganze Leben einer betroffenen Person beeinflussen. Wenn wir uns zum Beispiel aus Scham verstecken, dann schränken wir uns einerseits ein und sorgen andererseits unbeabsichtigt dafür, dass wir einen Teil unserer Person zurückhalten und verleugnen. Dadurch können wir uns schlimmstenfalls selbst fremd werden oder gar verlieren. Und mir ist klar geworden, dass dieser Aspekt sehr stark auf mich zutrifft/zugetroffen hat. Die jüngere Jacqueline war überhaupt nicht sie selbst, sondern stand neben sich und war sich fremd. Dadurch, dass ich mir so viele Jahre meines Lebens fremd war (gerade in der Zeit des Lebens, wo wir uns selbst finden wollen und sollen), weiß ich eigentlich ziemlich wenig über mich und das bis heute. Mein Skin Picking ist nicht der einzige Grund dafür, aber mir ist beim Lesen des Buches deutlich geworden, wie schlecht ich mich selbst, mein Kindheits-Ich und mein Teenie-Ich kenne... Das war eine bittere Erkenntnis.
- Damit verbunden war das Learning, dass Selbstwahrnehmung eine echte Grundkompetenz ist, die wir nicht unterschätzen sollten. Es ist total wichtig, dass wir unsere eigenen Gedanken, Gefühle, Verhaltensmuster, Eigenschaften und Bedürfnisse kennen- und verstehen lernen.
- Das kann uns wiederum dabei helfen, unsere eigenen Grenzen festzulegen, sie gut zu kennen und auch zu wahren. Skin Picking ist oft auch mit viel grenzüberschreitenden Erfahrungen verbunden und das, obwohl Grenzen für uns von besonders hoher Relevanz sind. Man lernt leider nicht von heute auf morgen, wie man seine Grenzen am besten schützt, denn das ist ein vermutlich lebenslanges Unterfangen.
- Perfektionismus und Skin Picking sind beste Freunde, scheint mir. Ich bin, wie viele andere Betroffene auch, eine absolute Perfektionistin, was mir im Leben oft unnötig viel Frust bereitet. Obwohl mir das eigentlich total bewusst ist, habe ich beim Lesen einer der Geschichten gemerkt, wie weit das wahre Ausmaß des Perfektionismus reicht und mit wie vielen negativen Glaubenssätzen er eigentlich verbunden ist. Klar, Perfektionismus hat auch seine Funktionen und kann wie eine Orientierungsstütze wirken, aber man muss echt aufpassen, dass es nicht der einzige Wegführer für einen wird. Denn niemand ist perfekt und es gibt keine absolute Sicherheit im Leben.
- Betroffene von BFRB's wie Skin Picking müssen sich häufig mit extrem viel Unverständnis aus ihrem Umfeld herumschlagen. Solange sie selbst noch nie von den Begriffen gehört haben, glauben sie vielleicht sogar, was ihnen das Umfeld direkt oder indirekt vermittelt. Dabei sind wir gar nicht komisch, willensschwach oder Ähnliches! Es gibt da draußen ganz viele andere Betroffene, die unsere Gefühle und Gedanken nur allzu gut nachempfinden können. Ich habe in diesem Buch auf komplett neue Weise verstanden, wie unfassbar wichtig Aufklärung ist. Wir als Betroffene MÜSSEN die Erkrankung bestmöglich verstehen und auch die Gesellschaft oder Fachpersonen sollten ein viel ausgeprägteres Verständnis davon bekommen! Betroffene leiden vieeeeel zu lange, ohne auch nur im Ansatz Bescheid zu wissen. Das muss sich ändern!
- "Skin Picking ist ein Teil von uns". Wie fühlt ihr euch, wenn ich diesen Satz so in den Raum werfe? Fühlt sich das vielleicht ernüchternd oder provozierend an, weil ihr nicht möchtet, dass es ein Teil von euch bzw. eurem Alltag ist? Oder fühlt sich das mehr nach liebevoller Akzeptanz an, weil ihr nicht länger mit erhobenen Waffen gegen euch vorgehen wollt? Ich habe das bisher immer eher aus der zweiten Perspektive gesagt, weil ich das Skin Picking anerkennen und sehen möchte, bevor ich daran arbeiten kann. Eine der Geschichten hat mir den Impuls gegeben, zu reflektieren, was diese Aussage (noch) bedeuten könnte und inwiefern sich die Bedeutung davon im Laufe der Heilungsgeschichte verändern kann.
- Verbunden mit der Selbstwahrnehmung ist auch die Selbstachtung. Unsere eigenen Bedürfnisse, Wünsche und Ziele sind etwas wert und dürfen verfolgt werden. Nein, sie sollten es sogar! Wer verfolgt sie, wenn nicht wir selbst? Eine betroffene Person hat in ihrem Unterkapitel davon berichtet, dass sie erst recht spät im Leben gelernt hat, für sich selbst zu leben und die eigenen Wünsche zu verfolgen und nicht nur die Erwartungen von Anderen zu erfüllen.
- Stress ist für mich sehr negativ konnotiert und etwas, was ich eigentlich partout vermeiden will. Leider ist das nicht immer möglich und bis zur Lektüre dieses Buches dachte ich nicht selten, dass ich selbst der Fehler in der Rechnung wäre. Also dass es an mir und meinen unzureichenden Kompetenzen liegen würde, dass ich immer wieder viel Stress erlebe und damit nicht gut umgehen kann. Aber ich durfte ein sehr wichtiges Learning mitnehmen, welches da wäre, dass Stress zum Leben dazugehört. Wir können wenig daran ändern, dass es stressige Ereignisse oder Lebensphasen gibt. Jeder Mensch erlebt diese und jeder Mensch geht damit anders um. Wir alle brauchen Wege, um uns zu regulieren und zu entspannen. Person A nimmt Weg a, Person B nimmt Weg b und wir nehmen bisher noch den Weg des Skin Pickings. Aber eines Tages werden wir andere Wege finden, da bin ich mir sicher!
- Akzeptanz ist nicht gleich Resignation! Nur, weil wir unseretwillen versuchen, dem Skin Picking mit mehr Akzeptanz gegenüberzutreten, heißt das nicht, dass wir es gut finden und für immer in unserem Leben behalten wollen. Akzeptanz macht es uns aber sehr viel einfacher. Falls euch das Thema genauer interessieren sollte, kann ich euch empfehlen, in die Podcastfolge Nr. 27 von Christinas Podcast reinzuhören. Ich fand, dass das eine ihrer besten Podcastfolgen gewesen ist.
- Während Ingrids Geschichte mir mitgegeben hat, dass Heilung ein Weg ist, habe ich im späteren Verlauf des Teils A verdeutlicht bekommen, dass Heilung wirklich nicht bloß das reine Verhalten oder das Hautbild betrifft. Heilende Impulse können von so vielen verschiedenen Seiten kommen und sich dann addieren. Und obwohl Betroffene das Verhalten noch hin und wieder zeigen, können sie sich als (weitgehend) geheilt ansehen, weil sie keine Einschränkungen mehr erleben.
- Auf dem Weg der Heilung müssen wir eine Menge Anstrengungen auf uns nehmen und viel an uns selbst ändern. Aber wo sollen wir anfangen? Was hat oberste Priorität? Falls euch Fragen dieser Art auch beschäftigen sollten, dann findet ihr folgenden Impuls wahrscheinlich auch ganz hilfreich: Das Handeln vor den Gefühlen und Gedanken ändern zu wollen, ist unmöglich. Die Arbeit an unserer Gefühls- und Gedankenwelt muss die Basis sein und darauf aufbauend kann das Handeln Stück für Stück verändert werden. Das war mir vorher gar nicht wirklich bewusst.
- Vielleicht ist euch das schon völlig klar, aber mir hat die Einsicht geholfen, dass Heilung kein passiver Vorgang ist, der mit einem passiert. Heilung ist ein aktiver Prozess von innen heraus, der bei Bedarf von Fachpersonen unterstützt werden kann. Aber niemand Anderes als ihr selbst kann diese Reise auf sich nehmen, es ist eure Verantwortung!
- Zum Ende der Betroffenengeschichten kam mir nochmal eine weitere bittere, aber hilfreiche Erkenntnis, die ich hier nur andeuten werde. Es ging darum, dass unsere psychische Gesundheit und unser allgemeines Wohlbefinden die zwei größten und wichtigsten Schlüsselfaktoren sind, um heilen zu können. So weit, so gut. Das klingt ziemlich logisch, oder? Aber als ich das gelesen habe, hatte ich einen dieser Momente, in denen mir klar wird, dass es mir nicht gut geht und auch die vergangenen Jahre nicht gut ging, im Gegenteil. Und solange sich das nicht ändert, werde ich das Skin Picking nicht loswerden.
- Heilung zu erreichen, ist etwas, was einem wieder genommen werden kann. Ja, Heilung ist ein Weg, aber dieser Weg wird in den wenigstens Fällen an seinem Ende eine feste und sichere Endstation bereithalten. Heilung ist kein endgültiger Zustand, sondern etwas, was lebenslange Arbeit erfordert und durch äußere Zustände leider wieder zunichtegemacht werden kann. Was daran aber ermutigend sein könnte: Wenn ihr es einmal geschafft habt, werdet ihr es mit Sicherheit ein zweites Mal schaffen!
- Zu guter Letzt: Wir sollten uns in Selbstvergebung üben! Wir können nichts dafür und haben uns die Erkrankung nicht ausgesucht. Wir haben Mitgefühl verdient, auch von uns selbst. Das ist keine leichte, aber eine mögliche Aufgabe! Wir können das lernen. Vielleicht hilft es euch, das über andere Betroffen zu lernen - das geht besonders gut über Selbsthilfegruppentreffen. Da könnt ihr sehen, dass die anderen Betroffenen einfach nur ganz liebe, wunderbare Menschen sind, die das Beste der Welt verdient haben. Eventuell könnt ihr das dann im zweiten Schritt auf euch selbst übertragen. Ihr seid schließlich genauso wunderbar!
Dieser Blog dient mir seit 2014 als eine Art "Tagebuch", in dem ich meine Reise mit dem Skin Picking festhalte. Des Weiteren möchte ich informieren, das Thema bekannter machen und anderen Betroffenen Verständnis, Mut sowie Inspiration schenken. Nebenbei teile ich auch andere Bereiche meines Lebens mit euch, lade Fotos hoch und Ähnliches. Viel Freude und Erkenntnisse beim Lesen!
20. September 2022
Rezension - "Frieden mit meiner Haut"
2 Kommentare:
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Hallo Jacqueline! Ganz herzlichen Dank für deine ausführliche und ehrliche Rezension! Auch wenn du Skin Picking schon gut kennst, hat das Buch bei dir offenar einige neue Gedankengänge ausgelöst - das freut mich, denn ich bin überzeugt, dass diese dich weiterbringen werden. Liebe Grüße in den Norden! :-)
AntwortenLöschenHallo, liebe Ingrid und danke dir vielmals für deine Reaktion auf meine Buchrezension! :) Freut mich, dass du dir die Zeit für einen Kommentar genommen hast. Du hast absolut recht: Neue Gedankengänge gab es und diese wiederum können ja zu weiteren neuen Gedanken führen. Das ist meiner Meinung nach das einzigartige Potential vom Austausch mit anderen Betroffenen: Alleine kreist man in gut bekannten Wegen durch den Kopf, aber jemand Anderes kann anders denken oder formulieren und schon hat man einen wertvollen Impuls gewonnen. :)
LöschenLiebe Grüße nach Köln! :)