1. Dezember 2022

Ein Gefühl der Dankbarkeit

Einen schönen ersten Dezembertag und -abend wünsche ich euch! Der Weihnachtsmonat hat begonnen, das Jahr 2022 neigt sich langsam dem Ende zu, wie verrückt.
 
Für viele Menschen auf der Welt stehen der Dezember und generell die Weihnachtszeit im Zeichen der Dankbarkeit und Besinnung. Um das ganze Materielle, was irgendwie dazugehört, kommt man nur schwer herum, aber ich meine das gerade eigentlich vielmehr bezogen auf Immaterielles: Liebe, Freundschaft, Familie, kleine Freuden des Alltags, schöne gemeinsame Quality-Time bzw. Aktivitäten und all das. Ihr wisst schon. Aber nicht alle diese Punkte sind für jede Person da draußen mit positiven Gefühlen verbunden und auch wir BFRB-Betroffene haben nicht selten unsere Struggles, wenn es auf Weihnachten zugeht. Auch für mich soll es im heutigen Post nicht um die Dankbarkeit bezogen auf die genannten Punkte gehen. Mir geht es mehr um die Dankbarkeit bezogen auf mein Skin Picking und alles, was mir diese Erkrankung so ermöglicht. Wenn ich euch damit zu den Ohren raushänge, weil ich das nicht zum ersten Mal thematisiere, dann braucht ihr gar nicht weiterlesen. :D Aber mir ist danach und es ist mir wichtig, diese Gedanken und Gefühle auch zu kommunizieren. So halte ich sie für immer fest und kann zu einem späteren Zeitpunkt immer wieder darauf zurückkommen, um mich an etwas zu erinnern, wofür ich aus tiefstem Herzen dankbar bin.

Ja, wo fange ich nur an? In meinem Kopf herrscht ein kleines Wirrwarr... Deshalb ist es wohl keine schlechte Idee, einfach ein paar Bilder in den Raum zu werfen, die ganz eng mit den nachfolgenden Zeilen zu tun haben werden.




Die Kenner unter euch werden ne Ahnung haben, von welchem Anlass diese Aufnahmen stammen: Es geht selbstverständlich um den wundervollen Fotoworkshop (hier gibt's mehr Infos dazu), den ich im August mit der SHG Köln veranstaltet habe. Aufgenommen wurden die Bilder von der lieben Fotografin Marie, die mit mir gemeinsam an dem Projekt beteiligt war - danke auch an dieser Stelle nochmal für diese Fotos! Der Fotoworkshop steht symbolisch ebenso für alle anderen außergewöhnlichen Veranstaltungen, die ich besuchen oder geben konnte und für alle weiteren Chancen im Rahmen der Öffentlichkeitsarbeit, die ich wahrnehmen durfte.

Bevor ich diesen Erzählstrang jedoch weiterführe, möchte ich die Zeit ein wenig zurückdrehen, so um die 10-13 Jahre zurück. Da war ich noch ein junges Mädchen am Anfang ihrer Pubertät. Skin Picking hat sich so langsam in mein Leben geschlichen - es fing ganz harmlos an, hat sich später dann irgendwie verselbstständigt und letztendlich auch chronifiziert. Um die 3 Jahre war ich betroffen, ohne den Begriff und das Erkrankungsbild zu kennen. Eine verhältnismäßig kurze Zeit im Vergleich zu vielen anderen Betroffenen und dennoch viel zu lang. Ich habe sooo lange und soooo überzeugt geglaubt, dieses komische und absurde Verhalten würde nur mich betreffen und dass ich ja der Fehler sein muss, sonst wäre ich ganz "normal" wie alle Anderen. Ich habe mich unfassbar alleine und einsam gefühlt, mich selbst und das Verhalten nicht verstanden, mir unzählige Fragen gestellt, die immer unbeantwortet blieben. Nirgendwo konnte ich meine Gefühle und Gedanken mal rauslassen und sowieso habe ich vollkommen ausgeschlossen, mich könnte jemals wer ehrlich verstehen. Aber als ich dann mit 15 Jahren zufällig über den Begriff Skin Picking stolperte, hat sich mir eine völlig unbekannte Welt aufgetan. Wie, das ist eine anerkannte psychische Störung? Wie, ich bin damit doch nicht alleine? Wie, es gibt andere Betroffene, die tatsächlich Ähnliches erleben wie ich und die mein Leid teilen? Wie, ich werde verstanden? Es war eigentlich wie ein schwarzes Loch, das mit unendlich viel Wissen und Erfahrungen auf mich wartete. Von dort an begann eine Reise...

Wieder zurück in die Gegenwart zur 25-jährigen Jacqueline. Heute arbeite ich kaum mehr gegen die Erkrankung und dafür vielmehr mit ihr. Ich habe verschiedene Wege gefunden, damit umzugehen und einer dieser Wege wurde der in die Öffentlichkeit und in das aktive Engagement. Ich spreche online sowie offline über Skin Picking, ich gebe Vorträge und Workshops, ich engagiere mich ehrenamtlich in der SHG, ich erhalte die Möglichkeit, ganz viele liebe Seelen kennenzulernen, ich bin im stetigen Austausch mit anderen Betroffenen, führe wertvolle Gespräche mit ihnen, plane ganze Projekte mit anderen Menschen aus der Community, ich darf meine Stimme in (Online-)Artikeln, auf Social Media und im Fernsehen nutzen, ich lerne Jahr für Jahr Neues über das Krankheitsbild und noch so viel mehr. Der Punkt ist: Die Tennie-Jacqueline würde mir nicht glauben, wenn ich ihr das erzählen würde. Sie würde mich für verrückt halten. Und doch habe ich es möglich gemacht. Alles startete so richtig Ende 2014 mit meinem kleinen Blog, von dem ich damals ehrlich niemals gedacht hätte, dass er zu irgendwas Großem führt. In erster Linie habe ich den Blog für mich gestartet und bloß innig gehofft, er würde auch ein paar andere Betroffene erreichen. Für wirklich realistisch habe ich das ehrlicherweise jedoch nicht gehalten. Als dann aber die ersten Steine ins Rollen kamen, habe ich erkannt, welchen Nutzen dieser Blog noch alles haben kann und dass es mehrere Gründe gibt, ihn fortzuführen. Heute ist mein Blog in der Community recht bekannt und das nur, weil ich nie aufgehört habe. Nagut, ein wenig Glück gehörte auch dazu, denn ich konnte nun wirklich nicht damit rechnen, was mir der Blog noch alles ermöglichen würde.

Kurzum: Ich bin so dankbar dafür, denn diese Arbeit erfüllt mein Herz und meine Seele - seht nur, wie ich auf den Bildern oben strahle. Es gibt mir so viel (u.A. Kraft und Inspiration), auf das ich nicht mehr verzichten möchte. In diesem Zuge vergebe ich auch allen Menschen, die mir in meiner Kindheit und Jugend Steine in den Weg geworfen haben, weil sie mich klein halten oder behindern wollten. Ich bin dankbar für diese Steine, denn sie haben mir ermöglicht, dorthin zu klettern, wo ich heute stehe. Ich stehe an einem Punkt, wo ich zahlreiche einzigartige Erfahrungen machen darf, die mein Leben immens bereichern. Dass ich sie in diesem Ausmaß erleben darf, hängt sicher auch mit meiner Lebenssituation seit Herbst 2017 zusammen: Als Student ist man meistens flexibler als wenn man arbeitet. Das trägt dazu bei, dass ich die Möglichkeit und die Zeit habe, mich dieser Arbeit zu widmen. Dennoch schätze ich das alles viel zu sehr, um es nach der Beendigung meines Masterstudiums aufzugeben. Das würde mir nicht in den Sinn kommen. Auch, wenn ich fest im Berufsleben angekommen bin, möchte ich mich weiter engagieren und vor allem auch endlich den letzten Rest meines eigenen Heilungswegs antreten.

Für Menschen da draußen, die nicht selbst betroffen sind, mag das Ganze hier wie eine absolute Nichtigkeit wirken. Für mich und für die Community hingegen bedeutet es die Welt, weil wir viel zu lange nicht gehört und gesehen wurden und nach wie vor hart um unsere Sichtbarkeit kämpfen müssen. Ich bin richtig stolz auf uns alle, dass wir letztendlich nie auf die Stimmen gehört haben, die uns nicht glauben wollten. Von allen Seiten bekommen wir gesagt, dass es unsere Erkrankung nicht gäbe, dass unser Leid nicht vorhanden wäre und dass wir keine Ahnung hätten. Von der Familie, von Freunden, von Arbeitskollegen, von Ärzten und Therapeuten/Psychologen... alles schon vorgekommen. Das ist Alltag für uns! Leider. Es braucht immer noch ganz, ganz viel Aufmerksamkeit und Aufklärung und ich bin unheimlich froh, dass es Personen in der Community gibt, die laut sind und sich dafür einsetzen. Denn doch, es gibt diese Erkrankung (Grüße an der Stelle an's ICD11). Doch, wir leiden und unser Leid ist valide. Doch, wir haben Wissen und dürfen selbstbewusst mit diesem Wissen umgehen. Wir haben es verdient, dass sich die Forschung mit dem Thema beschäftigt und dass es ausreichend adäquate Behandlungsmöglichkeiten gibt. Doch damit wir an diesen langersehnten Punkt kommen, sind wir auf eine Veränderung in der Gesellschaft angewiesen, die wir am besten über Kanäle und Formate erreichen können, die dazu bereit sind, das Thema (kompetent) zu behandeln. Genauso wie die Kanäle und Formate braucht es aber auch Betroffene, die sich trauen, öffentlich über ihre Krankheitsgeschichte zu sprechen. Schwierige Sache mit dem Mut und "sich trauen", wenn so viel Scham- und Schuldgefühle im Spiel sind, weil es sich zwar um eine psychische Erkrankung handelt, die aber sichtbare Konsequenzen für unser Äußeres hat. Da habe ich vollstes Verständnis, dass sich nicht jeder dazu bereit fühlt! Auch, wenn ich mir sehnlichst wünschen würde, dass wir die Existenz von Vorurteilen und Stigmata so weit abbauen könnten, dass wir uns ganz selbstverständlich nicht mehr schämen. Solange nutze ich meine Stimme nur zu gerne für all diejenigen, die sich lieber nicht direkt zeigen wollen oder können. Ich möchte, dass ihr euch gesehen und repräsentiert fühlt durch meine Arbeit. Hoffentlich gelingt mir das.

Danke für eure Zeit und dass ihr mich in meinem Sein unterstützt! Fühlt euch fest gedrückt.

Eure Jacqueline <3 :)

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