9. Juni 2017

Gastpost - Part 5

Halli hallo, wie geht's denn so?

Tja, mir geht es derzeit ziemlich gut, da mein Freund zu Besuch ist. Deswegen lasse ich hier auch nichts von mir hören, sorry dafür. Aber um nicht lange herumzuschwafeln, kommen wir gleich zur Sache.

Erfreulicherweise hat mir nämlich vor einigen Tagen ein neuer E-Mail-Kontakt geschrieben und die Person dahinter schickte mir sogar einen Text zu. Dieser Text beschreibt wieder eine individuelle Geschichte eines Betroffenen und war dazu bestimmt, von mir als Gastpost veröffentlicht zu werden. Ist das nicht schön? Ich habe mich mal wieder sehr gefreut - ihr wisst ja, dass ich Fan dieser Postserie bin. Hoffentlich seid ihr es auch (noch)! Wenn euch das aber nichts sagt, dann schaut gerne bei den vergangenen vier Teilen rein, indem ihr hier klickt. Im ersten Teil findet ihr zusätzlich noch eine Einleitung und Erklärung, wieso diese Postserie entstanden ist und was ihr Inhalt ist.

Bevor es losgeht, möchte ich euch als Betroffene ganz direkt ansprechen: Ihr habt niemanden zum Reden, möchtet aber trotzdem mal euer Herz ausschütten oder Frust rauslassen? Ihr traut euch nicht, selbst an die Öffentlichkeit zu gehen, möchtet aber dennoch, dass eure Geschichte von Menschen gelesen wird? Ihr habt ein paar tolle Tricks und Tipps oder einfach nur liebe Worte für Leidensgenossen, die ihr loswerden wollt? Ein eigener Blog wäre euch zu viel Arbeit, aber einen kleinen Post würdet ihr gerne verfassen? Dann meldet euch gerne bei mir! Schreibt mir eine E-Mail mit dem Betreff "Gastpost" an folgende Adresse: dermatillomanie-blog@web.de. Selbstverständlich dürft ihr auch Bilder mitsenden, wenn ihr das wollt. Ihr könnt dabei entweder von Anfang an namenslos bleiben oder mich darum bitten, euch zu anonymisieren. Ich werde euren Text dann unverändert innerhalb dieser Postserie veröffentlichen, sodass ihr selbst eventuelle Kommentare Anderer dazu lesen könnt.


"Liebe Leser von Jacquelines Blog!

Ich freue mich, dass ich hier die Gelegenheit bekomme, auch kurz von mir zu berichten. Einen eigenen Blog möchte ich nicht veröffentlichen, auch aus Zeitgründen könnte ich das glaub ich nicht managen. Ich bin 23 Jahre alt, habe einen etwas anstrengenden Job und viel Freizeitstress - und, wie ich gerade erschreckend feststelle, bin ich seit ca. 9-10 Jahren Skin Pickerin. Angefangen in der Pubertät, intensiver mit dem Alter von 16-17 Jahren... hab mir aber nie so richtig Gedanken darüber gemacht, und dass das Ganze einen Namen hat, weiß ich seit 2 Jahren ca.

Vor 1,5 Wochen hatte ich mal wieder einen ganz schlimmen Anfall und danach war das schlechte Gewissen wieder groß. So bin ich danach zum ersten Mal auf Jacquelines Blog gestoßen, weil ich bei Dr. Google nach Hilfe gesucht habe. Seitdem war ich sehr oft auf dieser Seite und bin sehr froh, denn irgendwie ist das das Erste, mit dem ich was anfangen kann. Ich habe auch das Gefühl, dass es mir hilft, von gegenseitigen "Erfahrungen" zu lesen und mich wirklich mal damit zu beschäftigen.

Das Skin Picking ist für mich eine Sucht. Am Tag spürt man unter dem Pony, welcher die Stirn gut versteckt, das "Pochen" - in den Pickeln (welche ja eigentlich keine waren), die man am Vortag bearbeitet hat, ist noch was drin. Man muss die Haut reinigen. Bizarrerweise "freut" man sich irgendwie schon darauf, wenn man dann endlich daheim ist, das Make-Up entfernt und "nur mal kurz" die Haut bearbeiten kann. Es ist so eine unbewusste Anspannung, die abfällt und dann übergeht in den entspannenden Trance-Zustand. Aus "nur mal kurz" werden Stunden, eigentlich hat man Durst, muss schon lange aufs Klo und kalt ist einem auch, weil man nicht viel anhat. Man weiß genau, was gerade passiert. Bei mir ist es wohl einfach das Ventil, das ich zum Abbauen von Gedanken und Stress brauche, neben dem Zwang, jede Unreinheit entfernen zu wollen. Ich brauche keinen Fernseher, im Handy stöbert man eh viel zu viel am Tag und auch ein Buch zu lesen, entspannt mich in diesen Momenten nicht. Nach einem anstrengenden Tag, oder wenn generell in der Gefühls- und Gedankenwelt momentan viel passiert, scheine ich diesen Trance-Zustand irgendwie zu brauchen - das nichts denken, nichts fühlen.

Ist es nicht die Ironie an sich, dass wir nichts anderes möchten als reine Haut, und uns selbst so "zurichten"? Ganz ehrlich, wenn wir unsere Haut mal in Ruhe lassen würden, wäre sie wunderschön. Keine Flecken, aber vielleicht ab und zu mal einen Mitesser oder so. Und genau das ist das Problem. In einem von Jacquelines Posts kann man lesen, dass es immer schwieriger wird, wenn man auf ein Ziel hin arbeitet. Da geht es uns wohl allen gleich. Ich war an dem damaligen Wochenende auf einem Event eingeladen, wo ich ein ärmelloses Kleid anhatte und alle umhauen wollte. Ich war so brav, die Tage davor ist es mir gelungen, die Haut richtig gut abheilen zu lassen. Und dann, zwei Tage vorher, hatte ich einen Anfall und habe alles bearbeitet. Es hat nur mit dem kleinen Mitesser begonnen und ist dann richtig ausgeartet. In mir hat haben alle Warnglocken geläutet ("Nicht, was machst du denn!!") - es ist im Kopf ein regelrechter Streit ausgebrochen. Danach das schlechte Gewissen, am nächsten Tag dann das Resultat - alles wund, rot, entzündet, zehnmal schlimmer als überhaupt zuvor, wo eigentlich nichts war.

Und darauf wieder sehr viele intensive Abende - wie wenn ich die Tage von vorher aufholen müsste. Dabei ist bei dem Event eh alles gut gegangen! Ich habe natürlich alle Schminkkünste ausgepackt, keiner hat was gemerkt und ich habe viele Komplimente bekommen. Müsste das nicht eigentlich ein Ansporn sein?

Am Tag des Anfalls war ich wieder sehr verzweifelt, also danach dann erst natürlich. Und als ich dann so auf Jacquelines Blog gestöbert habe, ist mir klar geworden, dass ich mich wirklich damit auseinandersetzen muss. Habe mir Zettel ausgedruckt, um auch ein "Skin Picking Tagebuch" zu führen. Mit Foto/Status/Hautzustand, Grund (was ist passiert, warum habe ich heute keine Ruhe gegeben) und wie ich mich fühle. Eigentlich kein schlechter Ansatz, funktioniert hat das Ganze drei Tage lang. Warum ich nicht weitergemacht habe, kann ich nicht sagen, aber wir manipulieren uns in der Sache ja eh andauernd selbst. Zumindest mache ich seitdem fast jeden Tag ein Foto von meiner Haut und habe das Gefühl, dass mir das hilft.

Wegen dem genannten Event war ich vor 2 Wochen dann auch 3x im Solarium, da ich nicht wie eine weiße Wand aussehen wollte. Normalerweise gehe ich im Frühjahr generell 3-4x ins Solarium - aber nicht öfter! Das trocknet die Haut ein bisschen aus, man sieht die Narben vom Winter (welche man im Sommer nicht mehr unter Schals und langer Kleidung verstecken kann) nicht mehr so gut und außerdem habe ich irgendwo doch Angst um meine Gesundheit, und es gelingt mir besser, frisch solariumgebräunte Haut in Ruhe zu lassen. Umso schlechter war mein Gewissen in diesen Tagen, weil es mir leider nicht gelungen ist, durchzuhalten. Ich habe mich selbst über meine Dummheit geärgert - diese Unzufriedenheit mit sich selbst ist aber wie ein Kreislauf. Da hilft es dann nicht mal mehr, wenn man in der Nacht mit Jod-Heilsalbe eingeschmiert auf einem Handtuch schläft, es ist für die Haut einfach alles zu viel.
 
In den Tagen nach dem starken Anfall hatte ich ein straffes Zeitprogramm. Ich habe es geschafft, ein bisschen Ruhe zu geben, und meine Haut wirklich nur wenig zu bearbeiten, Tag für Tag. Momentan kommt es mir so vor, als hätte ich eine so schöne Haut wie nie zuvor – aber ich denke, es wird manchen von euch wohl auch so gehen, dass man dann einen verzerrten Eindruck bekommt. Ich wünsche mir dann oft den Blickwinkel eines Außenstehenden, um meinen Hautzustand neutral betrachten zu können.

Habe es die letzten zwei Tage schon wieder gemerkt – in der Arbeit und auch so war es ziemlich stressig und ich musste mich viel ärgern. Abends war es für mich SEHR schwierig, standhaft zu bleiben und nicht zu drücken. Ich wusste genau, wenn ich nachgebe, um „nur ein bisschen zu korrigieren“, bin ich verloren und die ganze Wut kommt raus. In mir haben die Gedanken wieder nebeneinander gekämpft, doch ich habe es geschafft. Zähneputzen und ab ins Bett. Hoffentlich kann ich die momentane, positive Phase nach dem großen Tief noch etwas beibehalten, bis es mich das nächste Mal aus der Bahn wirft.

Natürlich versuche ich mich auch an Tricks, wie Licht ausschalten im Bad etc. - aber das funktioniert leider nicht immer bzw. selten. Ihr werdet es alle kennen – nach guten Phasen kommen dann immer wieder auch schlechte Phasen, die die "mühsame Arbeit" (Abstinenz/Entzug?) zunichte machen.

Ich spreche eigentlich nur mit meiner Mama über das Skin Picking, sie kann mir aber nicht wirklich helfen. Meine Mama und meine Tante haben das gleiche Problem - meine Tante hat sehr viele Narben, da sie auch oft ins Solarium geht. Mein Papa weiß schon, dass mit uns dreien wohl was nicht stimmt, aber er macht nur ab und zu Bemerkungen ("Du musst auf deine Haut aufpassen, willst du aussehen wie deine Tante), sonst nichts, er weiß ja nicht, in welchem Ausmaß ich das betreibe.
Wenn ich abends länger im Bad stehe, ruft Mama oft aus dem Wohnzimmer "Was machst du?" - meine Antwort lautet: "Blödsinn" - und sie kennt sich aus. Meistens hilft ihre Nachfrage schon, dass ich aufhöre oder sie kommt und schaltet mir das Licht aus, wobei sie sich dann meistens noch von mir anschnauzen lassen muss.


Dadurch, dass das mit der Dermatillomanie ja noch nicht so lange eine bekannte Krankheit ist, hat meine Mutter auch nicht gewusst, "was sie da hat". Aber ich rede mit ihr schon wirklich offen darüber, habe ihr Google-Ergebnisse gezeigt etc. Sie meinte, die beschriebenen Symptome kennt sie sehr wohl, halt nur ohne Bezeichnung, aber sie und ihre Schwester haben jeweils sehr viele Stunden vor dem Spiegel verbracht. Ich bin froh, dass sie mir hilft. Wir haben auch ausdrücklich besprochen, dass sie mir bitte nie böse sein darf, wenn ich sie im Bad "anschnauze". Das ist von mir die automatische Reaktion, weil ich dann aus meiner Trance gerissen werde, mich ertappt fühle und meinen Ärger dann an ihr auslasse. Wie genau meine Mutter noch unter der Dermatillomanie leidet, kann ich nicht sagen. Sie meint, sie hätte es im Griff. Wenn ich aber so drüber nachdenke, gibt es glaub ich schon auch noch schlechtere Tage. Meist ermahnt sie mich, aber wenn ich dann im Bett bin, ist sie dafür dann noch lange im Bad (Ich gehe aufgrund meiner anstrengenden Arbeit eigentlich immer vor ihr ins Bett).

Sollte ich mal in eine eigene Wohnung ausziehen, darf ins Bad nur ein großes Waschbecken, sodass man nicht nah zum Spiegel kommt, der Spiegel muss möglichst klein und das Licht möglichst schlecht sein. Auch in den anderen Räumen dürfen nicht so viele Spiegel sein, wenn dann hinter einem Regal z.B. oder unter schlechtem Licht. Es geht nichts über ein paar Tricks, noch wohne ich aber daheim. Einen Post-It an den Bad-Spiegel möchte ich eigentlich nicht anbringen, damit Paps nichts mitbekommt...Haare flechten oder zeichnen müsste ich öfter. Oder Nägel öfter neu streichen - mit frischem Nagellack rupft es sich nicht gut. Allerdings wachsen dann die Nägel, die zum Drücken wieder praktisch sind.. und und und... naja, das werdet ihr auch alles kennen.

Ich bin froh, dass es den Blog von Jacqueline gibt, und auch eure Kommentare zu lesen, hilft mir sehr. Wir sitzen irgendwie im gleichen Boot, in unserer laufenden Geschichte, mal mit guten und mal mit schlechten Zeiten.

Ich wünsche euch allen viel Kraft und Durchhaltevermögen!
Liebe Grüße, Simona (Name geändert)"

Vielen Dank für diesen ausführlichen Beitrag!

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