2. Februar 2017

Gastpost - Part 4

'N Abend, liebe Skinpicker und Nicht-Skinpicker.

Lang lang ist's her, dass ich einen Gastpost veröffentlicht habe, nicht wahr? Um genau zu sein, erschien der dritte Teil im September letzten Jahres. Danach meldete sich kein Interessent mehr bei mir, sodass diese Postserie ein paar Monate ruhte. Doch vor Kurzem kam eine ganz unerwartete Mail mit dem Betreff "Gastpost" - da war ich ganz aus dem Häuschen! Noch eine Person, die so mutig ist, ihren Frust mal in Worte zu verpacken und in meine Hände zu geben, damit ich ihn veröffentlichen kann. Danke danke danke, wirklich! Was dieses Mal aber ein wenig anders sein wird: Am Ende werde ich noch kurz ein Statement zu der Geschichte abgeben. Warum, erfahrt ihr dann.

Bevor es losgeht, folgt aber erst einmal das übliche Prozedere... Falls ihr nämlich nicht wisst, was diese Postserie so beinhaltet und warum sie existiert, dann schaut gerne beim ersten Teil rein oder gönnt euch unter dem Label "EureGeschichten" gleich alle drei Teile.

Und nun möchte ich euch als Betroffene ganz direkt ansprechen: Ihr habt niemanden zum Reden, möchtet aber trotzdem mal euer Herz ausschütten oder Frust rauslassen? Ihr traut euch nicht, selbst an die Öffentlichkeit zu gehen, möchtet aber dennoch, dass eure Geschichte von Menschen gelesen wird? Ihr habt ein paar tolle Tricks und Tipps oder einfach nur liebe Worte für Leidensgenossen, die ihr loswerden wollt? Ein eigener Blog wäre euch zu viel Arbeit, aber einen kleinen Post würdet ihr gerne verfassen? Dann meldet euch gerne bei mir! Schreibt mir eine E-Mail mit dem Betreff "Gastpost" an folgende Adresse: dermatillomanie-blog@web.de. Selbstverständlich dürft ihr auch Bilder mitsenden, wenn ihr das wollt. Ihr könnt dabei entweder von Anfang an namenslos bleiben oder mich darum bitten, euch zu anonymisieren. Ich werde euren Text dann unverändert innerhalb dieser Postserie veröffentlichen, sodass ihr selbst eventuelle Kommentare Anderer dazu lesen könnt.

 
"Warum eigentlich?

„Hör doch einfach auf zu drücken. Warum machst du das überhaupt?“
Ich denke mal, solche Aussagen und Fragen kennt ihr alle. Ja, warum eigentlich? Darüber habe ich schon oft nachgedacht, hauptsächlich wenn ich vor meinem großen Spiegel stand und die beiden Schlachtfelder betrachtete, die meine Arme darstellen sollen. Oder wenn ich nachts im Bett liege und nicht weiß, wie ich mich zudecken soll, ohne, dass der Stoff der Decke an meine schmerzende, pochende Haut gerät. Nur wenn ich meine Haut bearbeite, da denke ich über solche Sachen nicht nach – weil ich in dieser Zeit quasi überhaupt nicht denke.


Und ich denke, das ist der Grund. Denn wenn ich die Haut an meinen Armen absuche, Hautfetzen herausreiße, Krusten abkratze, mit der Pinzette Härchen herausziehe und drücke, bis das Blut fließt...fühle ich nichts. Gar nichts. Und für jemanden wie mich, die oft furchtbar sensibel und emotional ist, die immer alles richtig machen will und dabei über ihre eigenen Füße stolpert, ist dieses „Nichts fühlen“ ein echter Segen. Ganz egal, was davor auch passiert ist, ob ich Streit mit meiner Mutter, Angst vor einer wichtigen Prüfung habe oder mich einfach schäme, weil ich wieder zugenommen habe – sobald ich knibble, ist alles Andere nur noch nebensächlich. Klar, da ist sie noch irgendwo, die Stimme der Vernunft, die mir zuruft, wie falsch das ist, was ich mache, wie selbstzerstörerisch und krank, wie schlecht es mir gleich wieder gehen wird, wenn ich nicht sofort aufhöre. Aber die Stimme ist zart und gaaaanz weit weg... Viel zu leicht, sie zu ignorieren. Nachher wird sie dann nicht mehr so leise sein, die Vernunft. Dann wird ihre Stimme mir wieder im Kopf dröhnen und mir vor Augen halten, dass meine ganzen Mühen der letzten Tage, nicht an meiner Haut zu knibbeln, völlig umsonst waren, jetzt da die verheilten Stellen wieder offen sind. Dann werde ich einen dankbaren Blick aus dem Fenster werfen, auf den Schnee, der mir eine Ausrede gibt, langärmlige Shirts oder Stulpen zu tragen. Und werde mit Unruhe an den nächsten Sommer denken und mich fragen, ob ist es bis dahin schaffe, meine Haut verheilen zu lassen und vielleicht auch etwas abzunehmen. Ob ich es endlich schaffen werde, mich wohl in meiner Haut zu fühlen.


Hallo ihr Lieben ^^

Ich wollte endlich auch einmal schreiben, wie es mir mit Skin Picking so ergeht. Wie ihr schon lesen konntet, sind hauptsächlich meine Arme betroffen, mein Gesicht zu bearbeiten reizt mich Gott sei Dank nur sehr selten. Manchmal weiche ich auch auf meine Beine aus, denn dort zeigt sich die Reibeisenhaut natürlich auch.

Angefangen hat es bei mir, wie bei vielen Betroffenen, in der Pubertät – nur halt nicht wegen Akne, sondern durch meine Reibeisenhaut. Damals kannte ich weder das Eine noch das Andere. Ich wusste zwar, dass diese rötlichen Erhöhungen auf meinen Armen keine Pickel waren, aber eine passendere Bezeichnung hatte ich dafür auch nicht. Es fing mit harmloser Drückerei an, leider zu einer Zeit, in der ich in der Schule ausgegrenzt und langsam aber sicher zum Außenseiter wurde... Ich vermute mal, die vielen stressigen Situationen plus die verrückt spielende Haut haben zum Skin Picking geführt. Vor ca. 3 Jahren ging ich dann endlich zum Hautarzt, der mir erklärte, was Reibeisenhaut ist, aber zu den kleinen Verletzungen sagte, ich solle mir das bitte abgewöhnen (Darauf wäre ich nie selbst gekommen... -.- XD). Erst vor einem Jahr las ich in einem Artikel im Stern, halb verborgen in einem Nebensatz, die Bezeichnung für ein Verhalten, das meinem sehr ähnlich war. Aus reiner Langeweile schrieb ich es auf, um es später zu googeln – und fand eine Art Spiegelbild. So viele Menschen, alte wie junge, die mit den gleichen sonderbaren Symptomen kämpften wie ich. Die genauso litten und sich schämten für ein Verhalten, dass sie nicht ablegen konnten, so sehr sie es auch wollten. Eine Last fiel mir von der Seele, von der ich nicht mal wusste, dass ich sie mit mir herum schleppte. Ich war also nicht die Einzige. Ich war nicht allein. Das war für mich ein kleiner Durchbruch. Klar, ich drücke immer noch, ich habe gute und schlechte Phasen, manchmal habe ich auch noch richtige Anfälle – aber es ist nie mehr so schlimm geworden wie damals, als ich noch nichts vom Skin Picking wusste. Zu wissen, was es ist und dass es noch Andere haben, ist mein erster Schritt, davon weg zu kommen. Und mich stört mittlerweile auch der Gedanke nicht mehr, dass meine Haut Narben davon tragen wird. Mit alten, verheilten Narben kann ich leben – mit frischen Narben nicht.

Ich bin wirklich froh, dass ich diesen Post schreiben kann, denn wenn ich ehrlich bin, gibt es niemanden, mit dem ich so etwas gerne direkt besprechen würde... Ich will einfach niemanden abschrecken. Ich will nicht, dass die Leute, die mir wichtig sind, mich eklig finden. Oder depressiv. Oder gestört. Auch wenn ich selbst verstanden habe, dass Skin Picking nichts mit Verrücktsein zutun hat und Reibeisenhaut komisch aussieht, aber nicht eklig ist – werden Andere das auch so sehen? Ich hab mal versucht, mich meinem Bruder anzuvertrauen. Ging daneben. Ich konnte gar nicht richtig zu Ende reden, da kam schon:„Rede dir nicht ein, irgendwelche Phobien oder sowas zu haben, hör einfach auf deine Pickel zu drücken.“ -.-
Ein anderes Mal wollte ich mich meinem Freund anvertrauen. Als ich das erste Mal ärmellos vor ihm gesessen hatte, hatte ich furchtbare Angst gehabt, er könnte etwas sagen. Aber er sagte nichts, und ich war dankbar deswegen. Wenn er es nicht merkt, würde ich ihn nicht auch noch darauf aufmerksam machen. Viel später hat er dann mal meinen Arm vorsichtig in beide Hände genommen und gefragt:„Ich habe dich bisher nie darauf angesprochen, aber was ist das eigentlich?“ Auch wenn er es freundlich fragte, konnte ich nicht ehrlich antworten. Nicht richtig ehrlich. Ich hab ihm erklärt, dass es Reibeisenhaut ist und mehrfach betont, dass es nicht ansteckend oder so wäre (Ist meine standart Antwort).
Irgendwann schien ein guter Moment gekommen zu sein, ihm vom Skin Picking zu erzählen. Wir kamen zufällig auf das Thema Ritzen und ich wollte mir gerade eine sinnvolle Überleitung zum Skin Picking überlegen, als er plötzlich sagte:„Ich verstehe diese Leute einfach nicht. Wie kann man sich so etwas antun? Das ist doch krank. Wenn es denen so schlecht geht, sollen die entweder was dagegen tun oder sich halt umbringen. Sich selbst zu verletzen ist hirnlos.“ Eine derart plumpe Aussage bin ich nicht von meinem Freund gewohnt gewesen, der eigentlich sehr feinfühlig und verständnisvoll ist. Ich habe nie wieder versucht, mit ihm darüber zu reden.


So, jetzt habe ich euch aber genug zugetextet ^^ XP
Tipps habe ich leider keine für euch, die ihr nicht schon selbst kennen würdet. Ich kann nur noch sagen: Bleibt am Ball, lasst euch von Rückschlägen nicht entmutigen, ich werde das auch nicht. Ich träume schon viel zu lange von dem Tag, an dem ich im Sommer ein Top ohne Jacke anziehen kann und mich dabei wohl fühle ^^


Liebe Grüße und alles Gute! Anonym"



Muss ich noch erklären, wieso ich einen Kommentar dazu geben muss? Ich glaube, es ist offensichtlich, wie viel in dieser Geschichte steckt. Vor allem sehr viel, wo ich mich drin wiedererkenne oder wo ich zustimmen kann.

Direkt zu Beginn taucht etwas extrem Interessantes auf: Das Nichtsfühlen. Als ich das so las, ging mir ein Licht auf. Ja, das ist es! Man fühlt nichts, während man seine Haut bearbeitet. Absolut nichts. Man entgeht den Gefühlen, denen man im Leben sonst ausgeliefert ist. Und wie wir kürzlich schon festgestellt hatten, können wir damit häufig nicht richtig umgehen. Da ist es wirklich ein echter "Segen" (Zitat), wenn wir für ein paar Momente nichts fühlen. Wir genießen das.

Auch alles, was zur Stimme der Vernunft gesagt wurde, ist bei mir identisch und mir dennoch nie so klar gewesen wie jetzt. Während eines Anfalls ist sie leise und leicht zu ignorieren. Doch unmittelbar danach ist sie so laut und präsent, dass einem beinahe die Ohren platzen. Von irgendetwas wird sie überdeckt und in den Hintergrund gedrängt, wenn wir an unserer Haut zugange sind. Vielleicht von unserem Drang?

Als Letztes picke ich mir folgende Stelle heraus:"Eine Last fiel mir von der Seele, von der ich nicht mal wusste, dass ich sie mit mir herum schleppte". So geht es sicher ausnahmslos allen Betroffenen, die gerade erst herausgefunden haben, dass sie Skin Picking haben. Wenn ich genauer drüber nachdenke, ging es auch mir so. Ich schleppte diese Last damals - als ich noch nichts von der Dermatillomanie wusste - mit mir herum und leidete unter ihr. Still und ahnungslos. Irgendetwas war da auf meinem Rücken, doch ich konnte nicht sehen, was. Ehrlich gesagt habe ich nicht mal probiert, es herauszufinden. Bis es der Zufall so wollte und ich über die Bezeichnung des Skin Pickings stolperte. Ab da wusste ich Bescheid und konnte langsam anfangen, mich Stück für Stück von der Last zu befreien.

So, das soll es aber für heute gewesen sein. Ich fiebere schon dem Wochenende entgegen und wünsche euch einen schönen Abend!

4 Kommentare:

  1. Mir kam gerade die Idee, dass das "Nichtsfühlen" eventuell auf die Konzentration auf eine bestimmte Tätigkeit zurückzuführen ist. Ich kenne die Situation ja und ich kann sie ein wenig damit vergleichen, wenn ich ganz konzentriert zeichne. Ich kann dann stundenlang mit dem Bleistift auf einem A4 Papier zeichnen und bekomme nicht einmal mit, dass ich Hunger habe. In dem Moment, in dem meine Mama mich zum Essen holt merke ich erst, wie hungrig ich bin. Oder wenn ich morgens im Bad stehe und ich meine Finger nicht vom Gesicht lassen kann, merke ich erst, was ich getan habe, wenn ein zufälliger Blick auf die Uhr mir sagt, dass ich los muss. Dann geht der Zustand des Gehirns von Konzentration zu Aufmerksamkeit. Vorstellen kann man sich das ganz gut, wenn man an eine Bühne denkt. Konzentration: Scheinwerfer auf einen Punkt gerichtet und alles andere wird ausgeblendet. Aufmerksamkeit: die gesamte Bühne wird erleuchtet. Versteht ihr!? Wenn der Zustand zur Aufmerksamkeit wechselt wird einem bewusst, wie das gesamte Gesicht/der gesamte Arm/die gesamte Körperstelle ausschaut. Einem wird bewusst, was es sonst noch für Gedanken im Kopf gibt, also hört man auf einmal auch ganz deutlich die innere Stimme, die endlich auch auf der Bühne beleuchtet wird, die vorher nur nicht mit im Licht stand. Wenn man das ganze mal mit Kindern vergleicht: Sie können stundenlang eine Ameise betrachten, die über den Boden krabbelt, und ihnen wird nicht langweilig dabei. Weshalb? Weil sie den Drang haben die Welt entdecken und genau verstehen zu wollen. Sie richten also ihre gesamte Konzentration auf diesen Sachverhalt, der ihnen interessant erscheint. Ähnlich ist es bei Leuten, die unter SP leiden, so denke ich. Sie geben sich dem Drang hin, die Haut bearbeiten zu müssen. Und dieser Drang ist so stark, dass er die gesamte Konzentration verlangt.

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    1. Das klingt alles sehr interessant. Spannende Sichtweise, danke, dass du sie mit mir geteilt hast! :) Kann dir auch nur zustimmen.

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  2. Dieses "nichts-fühlen" kenne ich auch nur zu gut. Und auch diesen Zustand, alles andere auszublenden, sich mit 110% auf das Picken zu konzentrieren.
    Danke für das Teilen deiner Geschichte!
    Weiß es dein Freund denn jetzt eigentlich gar nicht?

    Liebe Grüße,
    Bella

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    1. Nein, er weiß nichts davon. Ist vielleicht momentan auch besser so. Ich versuche es vielleicht noch mal, wenn mir der Augenblick richtig erscheint. Und dann gaaaanz vorsichtig XP Ich glaube, Skin picking gehört wohl momentan noch zu den Themen, die einige Leute verstehen und anerkennen - und andere eben nicht. Manche haben eben etwas mehr verständnis für dieses seltsame Bedürfnis, andere können sich nichts darunter vorstellen und wissen dann nicht, was sie von Skin picking halten sollen. Da hilft wohl nur vorsichtiges Annähern an das Thema. Oder ich lasse es ganz, wenn ich merke er kann damit nichts anfangen. Mal sehen ^^

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